Warum gute Führungskräfte sexuelle Belästigung verhindern müssen - jobs.nzz.ch

Warum gute Führungskräfte sexuelle Belästigung verhindern müssen

Veröffentlicht am 20.11.2023
Warum gute Führungskräfte sexuelle Belästigung verhindern müssen
Sexuelle Belästigung wird als Frauenthema gesehen. Das ist absurd, denn die Frauen sind nicht die Ursache des Problems. Hier sind einige praktische Ideen, wie man die Prävention von Diskriminierung und sexueller Belästigung in eine männliche Führungsaufgabe verwandeln kann.

Von Dr. Bettina Palazzo
 
Wie die meisten Frauen wurde auch ich in meinem Berufsleben immer mal wieder sexuell belästigt. Trotzdem habe ich, wie die meisten Menschen, geglaubt, dass es sich dabei um Einzelfälle handelt, und dachte mir: «Ach, das war einfach Pech, im falschen Moment auf einen fiesen Typen zu treffen. Vielleicht war ich auch ein bisschen selbst schuld. Wahrscheinlich war ich zu nett oder der Rock zu kurz ...?»

Seit #metoo wissen wir aber alle, dass sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz allgegenwärtig und systemisch ist. Und nein, es geht nicht um unbeholfenes Flirten, einen unangebrachten, aber unschuldigen Witz oder eine gedankenlose Bemerkung oder Berührung. Sexuelle Belästigung ist ein hoch effektives Machtspiel, das sehr gut funktioniert, um Frauen klein zu halten.

Sexuelle Belästigung ist kostspielig
Sexuelle Belästigung schadet nicht nur der Karriere und dem Wohlbefinden von Frauen. Sie schadet auch Organisationen, die immer wieder weibliche Talente, Motivation und Innovationskraft verlieren. Denn in den meisten Fällen endet ein Vorfall damit, dass die Frauen das Unternehmen verlassen. Neben diesem teuren Turnover für Unternehmen erzeugt sexuelle Belästigung zudem ein feindseliges Klima für das gesamte Team, in dem sie stattfindet – für Frauen und für Männer. Eine Studie von 2019 fand heraus, dass die verringerte Produktivität in infizierten Teams ein Unternehmen
$ 22 500 im Jahr pro Person kostet.

Die Verhinderung von sexueller Belästigung ist eine Führungsaufgabe
Eine gute und erfolgreiche Führungskraft sollte deshalb auf die ersten Anzeichen von Respektlosigkeit achten, die in ihrem Team aufkommen. Es gilt, zeitnah darauf zu reagieren, denn sexuelle Belästigung ist hoch ansteckend, und es fängt immer klein an: Ein Kollege macht in einer Besprechung einen sexistischen Witz, alle lachen, und niemand reagiert. Das nächste Mal unterbricht ein anderer Mann eine Kollegin immer wieder und macht unpassende Bemerkungen über ihr Aussehen.

Es folgt eine Reihe von immer schwerwiegenderen Vorfällen, welche die Führungskraft gar nicht erst mitbekommt, und schon befindet sich das Team auf der Rolltreppe abwärts. Die Führungskraft wundert sich dann, warum die weiblichen Teammitglieder «plötzlich» häufig krank werden, weniger produktiv sind, ein Burnout haben oder das Unternehmen verlassen. Wenn das passiert, hat die Führungskraft keine gute Arbeit geleistet. Es ist ihre Aufgabe, den Mitarbeitenden zu helfen, damit diese sich weiter entwickeln und bei der Arbeit ihr Bestes geben können. Es ist nicht möglich, mit voller Konzentration, Motivation und Kreativität zu arbeiten, wenn sie ständig mit Mikroaggressionen konfrontiert sind oder ständig Angst haben müssen, bei der Arbeit auf ihre Sexualität reduziert zu werden. Es ist deshalb die ethische Pflicht einer guten Führungskraft, ihre Teammitglieder vor dieser Art von erniedrigendem Verhalten zu schützen. Wer das nicht tut, verliert das Vertrauen des Teams. Wer die Belästiger nicht zur Rechenschaft zieht, verliert auch deren Respekt und die Glaubwürdigkeit als Führungskraft.

Hören wir auf, daraus ein Frauenproblem zu machen
Sexuelle Belästigung wird derzeit primär als Frauenproblem dargestellt. Das zeigt sich bereits an der Sprache: Die meisten Aussagen über sexuelle Belästigung stehen im Passiv «Frau wird von ihrem Chef belästigt» und nicht «Chef belästigt weibliche Mitarbeitende». Auch bei der Prävention von sexueller Belästigung stehen oft die Frauen im Mittelpunkt: Was können Frauen tun, wenn sie belästigt werden? Wie können es Organisationen Frauen leichter machen, sexuelle Belästigung zu melden? Wie wir bereits aus vielen Jahren nicht so erfolgreicher Frauenförderprogramme wissen, funktioniert dieser «Frauen-Reparatur-Ansatz» einfach nicht.

Mein Vorschlag lautet folglich: Lasst uns diesen Fokus umkehren! Machen wir sexuelle Belästigung endlich zu einem männlichen Führungsthema! Denn das sollte es sein.

• Wie können männliche Führungskräfte für Vorfälle sexueller Belästigung sensibilisiert werden?

• Wie können Manager besser verstehen, wenn ein Witz nicht mehr lustig, sondern verletzend ist?

• Was können männliche Führungskräfte tun und sagen, wenn sie Zeuge von respektlosem männlichem Verhalten werden?

Hier sind einige einfache Richtlinien für den modernen, feministischen Manager:

Lesen Sie «Frauen-Bücher» und sehen Sie «Frauen-Filme»
Für Frauen ist es normal, sich mit männlichen Protagonisten in Büchern und Filmen zu identifizieren – weil es einfach mehr Bücher und Filme mit männlichen Protagonisten gibt. Männer sind es weniger gewohnt, die Perspektive des anderen Geschlechts einzunehmen. Deshalb ist das Lesen von Büchern und das Sehen von Filmen mit weiblichen Hauptpersonen eine gute Übung, um die weibliche Perspektive auf die Welt besser kennenzulernen. Ein grossartiges und packend geschriebenes Buch für den Einstieg ist «Ich bin Circe» von Madeline Miller, das die griechische Mythologie aus der weiblichen Perspektive neu erzählt. Empfehlenswerte feministische Filme sind z.B. «North Country», «Bombshell» oder «Suffragette». Allesamt brillant unterhaltsame Filme mit Weltklasse-Schauspielerinnen.

Hören Sie zu
Wenn eine Frau in einer Besprechung spricht, bemühen Sie sich bewusst, besser zuzuhören, unterbrechen Sie sie nicht, erklären Sie ihr nichts, was sie bereits weiss. Sie tun das schon? Gut. Das ist grossartig! Wirklich? Sind Sie sicher? Fragen Sie eine vertrauenswürdige Kollegin. Machen Sie eine Liste, wer wie oft und wie lange in Ihren Besprechungen spricht. Seien Sie ehrlich und überprüfen Sie sich selbst. Es gibt immer Raum für Verbesserungen. Versuchen Sie, es noch besser zu machen.

Machen Sie die richtigen Komplimente
Komplimente können knifflig sein. Natürlich wird es nach wie vor geschätzt, einer Frau ein Kompliment zu machen, aber die Grenze zwischen dem, was ok ist, und dem, was nicht ok ist, ist fliessend. Möchten Sie selbst einen Kommentar zu Ihrer Frisur oder Ihrem Outfit bekommen, wenn Sie gerade ein neues Projekt vorstellen? Nicht wirklich, oder? Es gibt einen einfachen Test für Komplimente: Könnten Sie dieses Kompliment auch Ihrer Mutter machen? Dann ist es in Ordnung. Sehen Sie, es ist ganz einfach. Oder konzentrieren Sie sich einfach darauf, Komplimente für die gute Arbeit zu machen, die eine Frau leistet.

Witze und persönliche Bemerkungen
Auch Witze und persönliche Bemerkungen können leicht verletzend wirken. Um das zu verhindern, atmen Sie lieber erst mal ruhig durch, bevor Sie etwas sagen und überlegen Sie, ob Ihre Äusserung respektvoll gegenüber Frauen ist oder nicht. Sie können sich auch fragen, ob Sie es wagen würden, diese Bemerkung oder diesen Witz gegenüber einem grossen, starken Mann wie Rambo, The Rock oder Jason Mamoa zu machen. Nein, denn diese Bemerkung könnte Ihnen einen Schlag in die Magengrube einbringen? Dann tun Sie es nicht. Einfach!
 
Drehen Sie es um, um es zu testen
Bevor Sie ein Urteil oder eine Entscheidung über eine Frau fällen, prüfen Sie, ob Sie dasselbe über einen Mann sagen oder entscheiden würden, ohne sich seltsam zu fühlen. Typischerweise werden Frauen abgestraft, wenn sie ehrgeizig, aggressiv oder wütend sind, weil wir unbewusst von ihnen erwarten, dass sie freundlich, grosszügig und geduldig sind. Wenn ein Mann hart um ein besseres Jobangebot verhandelt, hat niemand ein Problem damit, während man bei Frauen dazu neigt, sie als übermässig ehrgeizig und unsympathisch abzustempeln.

Seien Sie kein stiller Zuschauer
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wird oft stillschweigend geduldet. Die Belästiger stossen auf keinen Widerstand. Alle erstarren und warten darauf, dass jemand anders eingreift. In der sozialpsychologischen Forschung nennt man das den «Bystander-Effekt». Er tritt ein, wenn eine Gruppe von Menschen Zeuge einer unklaren Situation wird, wie z.B. ein streitendes Paar, ein Mann in schmutzigen Kleidern, der auf der Strasse liegt und möglicherweise einen Unfall hatte. Aufgrund der Diffusion der Verantwortung in der Gruppe und der Ungewissheit der Situation wartet jeder darauf, dass jemand anders handelt, und niemand will der Erste sein, der interveniert. Da sexuelle Belästigung viele Grauzonen hat («Hat er nur gescherzt?», «Hat er nur ein ungeschicktes Kompliment gemacht?»), wissen die Umstehenden nicht, ob und wie sie eingreifen sollen. Diese kollektive Apathie führt dazu, sexuelle Belästigung zu normalisieren, weil der Belästiger nicht die Botschaft erhält, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist. Folglich ist eine der vielversprechendsten Möglichkeiten, sexuelle Belästigung langfristig zu stoppen, das aktive Eingreifen der Bystander.

Werden Sie ein aktiver Bystander
Bewährte Strategien für ein erfolgreiches Eingreifen durch Bystander sind:

• die Situation mit Humor oder klaren Signalen der Missbilligung zu entspannen. Zum Beispiel: Wenn ein männlicher Kollege einen sexistischen Witz macht, stellen Sie sich dumm und bitten Sie ihn, zu erklären, warum das lustig ist. Auf diese Weise ist es nicht mehr lustig, sondern peinlich für den Witzbold.

• Ablenkung von der Situation, indem Sie z.B. die Zielperson in ein paralleles Gespräch verwickeln und dadurch den Angreifer ausgrenzen.

• dem Angreifer in einem ruhigen Moment nach dem Vorfall erklären, warum sein Verhalten beleidigend war. Diegrosse Herausforderung der Führungskommunikation ist es hier, die richtigen Worte zu finden und den Empfänger nicht in die Defensive zu drängen: «Stellen Sie sich vor, jemand würde so mit Ihrer Frau/Tochter sprechen ...».

• der Zielperson nach dem Vorfall helfen, z.B. durch emotionale Unterstützung, Solidarität oder Hilfe bei einer formellen Meldung des Vorfalls.

All diese Strategien sind keine Geheimwissenschaft. Sie sind leicht zu verstehen und anzuwenden, aber sie erfordern die Bereitschaft, die Perspektive zu ändern, besser zuzuhören, neugierig zu sein, offen zu bleiben und nicht defensiv zu werden. Und vor allem erfordern sie ständige Übung. Die gute Nachricht ist, dass Sie, wenn Sie diese Strategien praktizieren, auch die Führungsqualitäten erwerben, die Sie ohnehin brauchen, wenn Sie eine befähigende, inspirierende und erfolgreiche Führungskraft sein wollen: Sie schützen Ihr Team, Sie schaffen ein Klima des Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung, in dem sich die Teammitglieder sicher fühlen, Probleme ansprechen und ihre frischen Ideen einbringen.

Autorin:



Dr. Bettina Palazzo forscht, berät und unter- richtet seit über 25 Jahren zum Thema Unternehmensethik. Dabei interessiert sie sich besonders für die Grauzonen ethischer Dilemmasituationen und die psychologischen Kräfte, die zu unethischem Verhalten führen (www.bettinapalazzo.com).

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